Sonntag, 31. August 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 6)

Tagebucheintrag Nr. 6
03. Mai 2012


London oder die Hetzjagd



Ich sitze in der Londoner U-Bahn und fahre nach South Kensington. Von dort aus habe ich zwar ein gutes Stück zu laufen, aber mit dem Londoner Stadtplan in den Händen sollte ich das Krankenhaus finden. Hoffentlich reicht mein Englisch aus und es heißt nicht gleich: »Dich können wir nicht nehmen, weil mach erst einmal einen Sprachkurs.« Den kann ich mir nicht auch noch leisten. Mein Budget ist sehr begrenzt. Eigentlich ist es dank Hotel komplett aufgebraucht. Wenigstens bekomme ich Frühstück und Abendessen, denn das ist im Preis inbegriffen. Das Geld für die Fahrtkarte für einen Monat musste ich schon zusammenkratzen. Ich besitze nicht mehr einen Penny. 
Langsam gehe ich die breite Straße hinunter deren Namen ich nicht weiß. Ich merkte mir nur, wie ich laufen muss und wo ich abbiegen soll. Innerlich fühle ich mich schlapp und ausgemergelt. Zweifel nagen an mir, die ich beiseiteschiebe. In einem fremden Land und dazu noch alleine, da darf mir ruhig mulmig zumute sein oder? 
Nachdenklich schaue ich auf meine Karte und dann auf das Straßenschild. Fulham Road. Ah, die Straße heißt schon mal, wie meine Zieladresse. Das ist gut, dann kann ich gar nicht so falsch sein. Jetzt, wo ich die Karte genauer studiere, merke ich, dass ich völlig falsch gefahren bin. Was, solls, dann muss ich eben mehr laufen, das soll gesund sein. 
Nach mehr als dreißig Minuten erblicke ich das Krankenhaus auf der linken Seite. An einer Ampel überquere ich die Straße und gehe durch den Eingang ins Innere des riesigen Komplexes. Mein Herz klopft mir mittlerweile bis zum Hals und meine Klamotten werden von meinem Schweiß regelrecht durchtränkt. Ruhe bewahren, an die Rezeption gehen und der netten Frau dort mein Anliegen mitteilen. Was ich auch Augenblicke später tute. Die Dame mittleren Alters lächelt mich freundlich an, greift nach dem Hörer und gibt weiter, was ich ihr eben sagte. 
Noch kann ich es nicht fassen, dass ich im Fahrstuhl stehe und zu einem Bewerbungsgespräch in den sechsten Stock fahre. Ich kam unangekündigt und ohne eine Einladung. Mit Hoffnung klopfe ich an die Tür von Mr. Smith, dem Personalleiter. 

Schnell laufe ich die Straße hinunter zur Sydney Street. Dort befindet sich, wie mir der nette Mann sagte ebenfalls eine Klinik. Noch immer bin ich etwas enttäuscht, aber was sollte ich machen? Auf Knien rutschen und um einen Job betteln? Dafür bin ich die Falsche, auch wenn es mir meiner Situation irgendwie angebracht erscheint. Nach zwanzig Minuten erreiche mein Ziel und schaue mich um. Gegenüber dem Krankenhaus befindet sich ein kleiner Park, der zum Erholen und Ausruhen einlädt. Eins können die Londoner und das sind schöne Parks anlegen, in denen ich mich sofort wohlfühle. Leider bekam hier ebenfalls eine Absage, jedoch brauche ich nur die Fulham Road zu überqueren und kann so gleich im nächsten Hospital vorsprechen. Mir kommt das Ganze wie eine Hetzjagd vor, was es auch zu sein scheint. So viele Kliniken auf einem Haufen, sind mir noch nie begegnet. Das hier sind andere Dimensionen als in Hamburg. Gegen London wirkt Hamburg wie eine Kleinstadt auf mich. 
Drei Krankenhäuser und nicht einmal ein Probearbeiten. Frustriert mache ich mich zur U-Bahn Station South Kensington auf und unterdrücke meine Tränen. Nett waren sie alle zu mir gewesen, jedoch reicht nett in meinem Fall nicht aus. Ich brauche eine Anstellung. Ich brauche - 
Auf einer Bank, in einem Park, der auf meinem Weg liegt, lasse ich mich nieder und starre in den Himmel. Was, wenn ich doch einen Fehler machte und total überreagiert habe? Was, wenn das hier alles falsch ist? Vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, mit meinen Eltern zu sprechen. Wie kam ich nur auf die absurde Idee nach England zu gehen, ohne Geld, ohne Anlaufstelle und ohne Hilfe? Warum, handele ich immer überstürzt? Fällt mir denn das überlegte Denken wirklich so schwer? 
Auf alle Fragen kann ich mit einem Ja antworten, was es mir noch schwerer macht. Meinem alten Leben kehrte ich den Rücken zu, obwohl ... mir wurde er zugekehrt. Ich zog nur die Konsequenzen daraus, die völlig bescheuert und verrückt sind. 
»Daran bist nur du schuld. Du und dieses Flittchen!« Wieder perlen mir Tränen über die Wangen und ich versuche nicht, sie aufzuhalten. Diesmal nicht. Hier kennt mich keiner. Ich bin eine Fremde, wer also interessiert sich dafür, ob eine Frau auf einer Bank sitzt und weint? Selbst wenn sich dafür einer interessieren würde, der müsste erst einmal an mir vorbei laufen. Ich jedoch bin allein. Es befindet sich keine Menschenseele in meiner Nähe. So sitze ich in einem Park und kann den Tränenstrom nicht unterbinden, der unaufhaltsam mein Gesicht hinterläuft. 

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