Freitag, 15. August 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 5)

Tagebucheintrag Nr. 5
02. Mai 2012


Auf Wiedersehen Hamburg



Ich schlief in einem billig Hotel auf der Reeperbahn und wegen der Lautstärke, die nicht nur aus den Kneipen in mein Zimmer drang, kann von Schlaf nicht die Rede sein. Völlig fertig hole ich mir einen Kaffee bei einer Bäckerei und mache mich auf den Weg zu meiner Bank. 
Wenn ich schon auf der Straße leben muss, dann will ich das Verdammt noch mal dort, wo mich keiner kennt. Genau aus dem Grund, werde ich mein Konto löschen, mein gesamtes Bargeld abheben, meinen geliebten Ford Fokus, also den Schrotthaufen verkaufen und verschwinden. Dieses Auto kaufte ich mir, nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte, einfach weil ich mich damals in diesen Wagen verliebt habe. Gott weiß warum. 
Sven mochte das Auto nie, und immer wenn wir ausgingen, nahmen wir seinen Mercedes, den nun wieder ich nicht leiden konnte. Diese Prollkiste! Auf Streit hatte ich keine Lust und so gab ich jedes Mal nach. Heute kommt mir das auch falsch vor. Vielleicht hätten wir uns zoffen sollen, anstatt schweigend beisammenzusitzen und die Dinge so hinzunehmen, wie sie waren. 
Ich bin nicht mehr ich. Ich habe mich verloren. Ein Teil von mir ist gegangen und er verstand es nicht, ihn wieder zu holen, dabei wäre es doch so einfach gewesen. Für sich nahm er den leichteren Weg, in dem er sich in die Arme von Sara legte und zuließ, dass meine Ängste, Schuldgefühle und meine Trauer mich erstickten. Mich diesem Leben entrissen und ich wortwörtlich ertrank in den Erinnerungen. 
Nie weinte ich, wenn er da war. Nie zeigte ich Schwäche, weil ich Angst davor hatte, wie er reagieren würde. Schließlich war ich schuld. Nein, ich bin schuld! 
Jetzt, wo ich so viel Zeit habe zum Nachdenken, beginne ich klarer zu sehen. Auch bin ich nicht länger wütend. Unsere Beziehung, die einmal wunderschön war, gab es seit einem Jahr nicht mehr. Mich erfüllt nur Traurigkeit, die mich jeden Tag droht zu überwältigen und dann spiele ich mit den Gedanken, Melissa wiedersehen zu wollen. So einfach, ich muss es nur genauso machen, wie sie es tat. 
Ich lehne mich an die Wand des Gebäudes, indem meine Bank sich befindet, und schließe die Augen. Manchmal würde ich gerne schreien. Mir den Frust und den Schmerz von der Seele brüllen, doch was soll das bringen, wenn niemand da ist, der einen hält? Halten kann ich mich unmöglich selbst und ich befürchte, mich dann endgültig zu verlieren. 
Mit Kraft reiße ich mich von den Gedanken los und betrete endlich die Bank. Nach einer halben Stunde trage ich fast mein gesamtes Vermögen bei mir. So viel ist es nicht, aber genug für einen Verbrecher. Langsam gehe ich die Barmbeker Straße zum Bus hinunter und hoffe, mein Auto gleich an einen Händler verkaufen zu können, stehen tut es schon auf dem Hof. 
Nach zehn Minuten Fahrzeit steige ich aus dem Bus, winke dem Fahrer zu und überquere die Straße. Der Autoverkäufer sieht mich und kommt auf mich zu. Zum Glück nimmt er meinen Wagen, auch wenn er sehr schlecht bezahlt, aber besser wenig als gar nichts. 
Ein letztes Mal streichen meine Finger über den glatten Lack. Am liebsten würde ich einsteigen und verschwinden, doch da der Motor nicht läuft, mir das Geld eh zum Tanken fehlt, ist es so besser für uns beide. 
Mit schwerem Herzen verabschiede ich mich von meinem blauen Fokus. Ich drehe mich nicht noch einmal herum, denn das würde ich nicht verkraften. Schnell bringe Distanz zwischen mir und dem Händler. Nicht, dass ich es mir anders überlege. 
Nun besitze ich das, was sich in meiner Reisetasche befindet und nicht mehr. Meine Sachen liegen noch immer in der Wohnung, die Sven und ich uns einst teilten. Was er mit ihnen macht, ist mir egal. Ich brauche nichts mehr davon. Vergessen möchte ich und das geht am besten ohne eine Erinnerung an ein früheres Leben. Ohne Dinge, die mit Emotionen verbunden sind. Ob ich nicht etwas vermissen werde? Auf lange Sicht bestimmt und bereuen tue ich auch irgendwann. Aber nicht heute, jetzt will ich nur endlich gehen und alles hinter mir lassen. 

Auf dem Weg zum Flughafen überdachte ich noch einmal meinen Entschluss, doch umkehren kam gar nicht in Frage. Obwohl mir Hamburg sehr fehlen wird, denn das tut es schon, stehe ich am Flugticketschalter und bezahle in diesem Moment meinen Hinflug nach London. Nein, es wird keinen Rückflug geben. Um ein Hotel kümmere ich mich direkt vor Ort und dann werde ich mich in allen Krankenhäusern vorstellen, die das Telefonbuch hergibt. Wer weiß, vielleicht finde ich eine neue Stelle, eine eigene kleine Wohnung inmitten dieser riesigen Metropole. Mein Geld sollte für zwei Wochen Hotel ausreichen, also bleibt keine Zeit für eine Stadtbesichtigung, später habe ich genug Zeit dafür. Euphorisch auf den Flug wartend, sehe ich mich in der Halle um. Gepäck zum Aufgeben besitze ich nicht und so brauche ich mich nicht an der langen Schlange anstellen. Noch einmal gehe ich alles in Gedanken durch. Meinen Ausweis, so wie auch meinen Führerschein trage ich bei mir. Meine unentbehrlichen Dokumente sind in der Cloud gespeichert. Die Originalen befinden sich in einem Order, in meiner ehemaligen Wohnung, aber die darf Sven mir gerne schicken, wenn ich eine Adresse weiß. Hoffentlich vergaß ich nicht etwas Wichtiges, denn jetzt gibt es kein zurück mehr. 
Nach einer Stunde des Wartens steige ich in meinen Flieger ein, setze mich auf meinen Platz am Fenster und verdränge das Gefühl, einen falschen Schritt zu machen. 

Nachdem ich in Heathrow ankam, suchte ich mir ein Hotel, zu dem mich gerade ein Taxi fährt. Mehr als zwei Wochen kann ich mir wirklich nicht leisten. Das London teuer ist, wusste ich, aber gleich so teuer? 
Mach das Beste daraus Mara. Du schaffst das schon.
Morgen werde ich mich an einen Rechner setzen, egal wo und meine Bewerbungen schreiben. Heute steht nur noch einchecken an, so wie die Adressen der Krankenhäuser heraussuchen, in denen ich mich bewerben möchte und dann werde ich mir endlich eine Mütze voll Schlaf gönnen, die ich mir mehr als verdient habe. 

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