Dienstag, 1. Februar 2022

Nur ein Gefühl

Sanft streiche ich über seine Hand und schaue ihn aus warmen Augen an. Wie er so da liegt, tut es mir in der Seele weh. Ich lausche auf seine unregelmäßigen Atemzüge und für einen Moment vergesse ich zu atmen. Mein Innerstes erzittert bei dem Gedanken, er könne womöglich nie wieder aufwachen. Sein Kopf, eingewickelt in einem weißen Verband, sein rechter Arm gegipst und die Maschine, die dafür sorgt, dass er genügend Sauerstoff bekommt, machen meine Sorgen nur um so größer. Wie soll ich ohne ihn zurechtkommen? Wie kann ich ohne ihn im Leben bestehen? Ich brauche ihn an meiner Seite, aber jetzt muss ich stark für ihn sein, das sagen mir auch die Ärzte. Ich streichele seine Wange und verbiete mir meine Tränen, die nur ein Ausdruck meiner Gefühle sind, die ich jetzt nicht gebrauchen kann. Mein Herz zerreißt, zieht sich schmerzlich zusammen und ich schnappe nach Luft. Meine Träume machte ich zu seinen und er machte die Seine zu meinen. Unser Haus ist nicht abbezahlt, das Kind in meinem Bauch wird bald kommen und ich fürchte mich davor, dass er es nie sehen wird. Ich schaue auf die Uhr und presse meine Lippen aufeinander. Niemals habe ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie es sein wird, wenn er nicht mehr da ist. Wahrscheinlich aus dem Grund, weil ich es mir gar nicht vorstellen kann. Meine Finger umschließen seine Hand und halten sie fest. Ich bete. Zum ersten Mal in meinem Leben bete ich und flehe darum, dass er mir meinen Lukas nicht nimmt. Er darf ihn mir nicht nehmen. Ich brauche ihn. Wir brauchen ihn. Mir ist egal, ob er laufen kann. Mir ist egal, ob er wieder ganz gesund wird, solange er bei mir ist. Für mich gibt es nicht einen Grund, ihn jemals zu verlassen. Ich habe ihn geheiratet und nicht, weil er gut verdient, sondern weil mein Herz mir sagte, dass er der Mann meines Lebens ist. Und ich weiß, wenn er gehen sollte. Wenn er mich allein mit unserem Kind zurücklässt, werde ich einsam bleiben. Kein Mann dieser Welt kann Lukas das Wasser reichen. Niemals werde ich einen anderen ansehen können, denn ich habe gefunden, was andere versuchen zu finden. Innigkeit. Zweisamkeit. Zusammen haben wir Berge versetzt, um einander gekämpft und gesiegt. Nein, wenn ich ihn verliere, wenn er stirbt, stirbt ein Teil meiner Seele mit ihm und ich werde sehnsüchtig den Tag herbei sehen, an dem er mich abholen kommt, damit wir in der Ewigkeit für immer zusammenbleiben. Wo immer auch dieser Ort sein mag, aber ich glaube fest daran, dass wir im Tod zueinander finden, und uns dann nichts mehr trennt. Vorsichtig hebe ich seine Hand an meine Lippen und küsse sie. Meine Tränen finden ihren Weg meine Wangen hinab und gequält unterdrücke ich einen Schluchzer. Wenn er geht, bleiben nur eine Leere und unser gemeinsames Kind, auf das wir uns so freuten. Meine Gefühle schnüren mir meine Kehle zu, und wenn ich in mich lausche, finde ich nur eine Stille, die mich auseinandernimmt. Mein Herz in meiner Brust tut weh und dieses Gefühl, welches uns zusammenbrachte, bringt mich schier um den Verstand. Mit einer Hand halte ich seine und mit der anderen streiche ich behutsam über meinen Bauch. »Bitte wach auf. Deine Familie braucht dich mein Schatz.«

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