Donnerstag, 14. August 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 4)

Tagebucheintrag Nr. 4
01. Mai 2012


Verirrt


»Ts.« 
Wenn doch alles so einfach wäre, ginge es uns allen gut und niemand würde sich um etwas sorgen. Keiner würde tief fallen, um sich dann aufrappeln zu müssen, wieder aufzustehen. Das gäbe es Simpelerweise nicht. 
Diese verblödete Tante beim Arbeitsamt schwafelte, dass es doch so leicht sei, einen anderen Job zu finden, dabei war ihre Unprofessionalität deutlich zu hören. Möglicherweise hilft es ja, wenn sie sich einmal selbst aufnimmt, sich die Aufnahme anhört, damit sie merkt, wie absurd ihre Worte klingen und damit sie weiß, was für einen Stuss sie daher redet. Ich jedenfalls habe genug davon. Solange ich keinen Wohnsitz nachweisen kann, bekomme ich auch kein Geld und das bedeutet für mich, ich sitze buchstäblich auf der Straße. 
Wie kann man nur in wenigen Tagen, so tief fallen? Ehrlich, ich weiß es nicht. Wohin soll ich mich jetzt wenden? Gestern habe ich mich von meinem Wohnsitz abgemeldet, dabei wohne ich nirgendswo, um mich woanders neu anzumelden. Jetzt habe ich den Salat. Das passiert mir immer, weil ich erst handele und dann nachdenke. Damit sitze ich nun in der größten Scheiße meines Lebens und einen Ausweg wird es so schnell auch nicht geben. 
Mensch Mara, warum musst du ständig alles überstürzen? Weil ich eben ich bin. Ganz einfach. 
Eine Nacht durfte ich bei Fendra übernachten, danach zog ich in ein Motel. Mit meinen Eltern habe ich seit dem verhängnisvollen Abend nicht mehr gesprochen. Es gibt nichts zu sagen. Sie werden mir nicht helfen. 
Langsam schlendere ich am Hafen entlang und schaue zu der Queen Mary II, die mal wieder bei uns in Hamburg vorbeischaut, und sehne mich danach, allem hier den Rücken zu zukehren. Warum nicht abhauen, in ein fremdes Land, wo mich keiner kennt? Wieso nicht einen Neuanfang starten? 
Ich setze mich auf eine Bank, stütze meine Ellenbogen am Knie ab und bedecke mein Gesicht mit den Händen. Dicke Tränen quellen durch meine Finger und mein Körper, nein mein Innerstes wird erdrückt von der Last, die ich nicht tragen kann. Die mich zerreist, bis von mir nichts übrig bleibt. Eine Schulter zum Anlehnen wäre schön und ein Arm, der mich hält. Besser noch ein warmer Körper, der mir ehrlichen Trost spendet, nur leider gibt es in meiner Welt nicht einen Menschen, dem ich wichtig bin. Der meine Not sieht, mich versteht, ohne gleich mit dem Finger auf mich zu zeigen mit den Worten: »Das ist Mara. Die Mara, die ihre Schwester hat sterben lassen, weil der Job wichtiger war.« 
Natürlich weiß ich, dass das so niemand sagt, denken taten sie es aber alle. Auch Sven. Woher ich das weiß? Ich bin doch kein Eisberg!
Früher einmal dachte ich, dass alle Obdachlosen Penner seien, die es nicht anders verdienten, als das sich die Gesellschaft von ihnen fernhält. Da ich quasi eine von ihnen bin, denke ich langsam um. In dieser Situation wollte ich beim besten Willen nicht stecken, da sich aber nun mal nur Sand anstatt einer Gehirnmasse in meinem Kopf befindet, ist das nun so. 
Selbstverständlich trage nicht ich daran schuld sondern mein alles geliebter Exfreund. Wenn er nicht mit Sara im Bett gelandet wäre, würde ich meinen Job noch haben, mein Sofa und nicht ziellos in der Gegend herumlaufen. Ach war mein Leben schön. Aber war es das wirklich? Wahrscheinlich habe ich mir seit Melissas Tod etwas vor gemacht. Bestimmt habe ich mir die schönen Dinge nur eingeredet und in Wahrheit waren sie furchtbar. Jetzt wäre ein Therapeut gut, der mir recht gibt. 
Welche Gemeinsamkeiten verbanden mich zuletzt mit Sven? Da gab es die Filme, die wir beide mögen, die ellenlangen Gespräche, in der das Schweigen vorherrschte und sein Hobby nicht da zu sein, wenn ich ihn einmal brauchte. Der Spruch: »Der Käse wusste bescheid«, trug bei uns mehr als einen Funken Wahrheit mit sich. 
So langsam wird mir klar, dass ich Sven mit Melissa verloren habe, weil ich es war, die sich verändert hatte. Warum Schweigen? Warum kein Wort? Wieso redete er nicht mit mir? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er es jemals versuchte. Was ist schon ein Jahr? Irgendwie glaube ich, dass nie einer verstehen wird, was es heißt, seine eigene Schwester tot aufzufinden. Was es für mich bedeutete, sie in einer Blutlache zu sehen, ihr nicht helfen zu können. Ausgerechnet ich, die doch in solchen Dingen ausgebildet worden war. Warum versteht keiner, dass diese Bilder mich verfolgen, keine Ruhe geben wollen, mir den Schlaf rauben und an meinen Kräften zerren. 

So sitze ich hier auf einer Bank und begreife schleichend, dass ich mich im letzten Jahr verirrt habe. So tief, dass der Ausgang nicht zu erahnen ist. 

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  Nun stehe ich hier. Im Raum der vielen Spiegel und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Sieh dich an, sagten sie mir. Geh und sieh dich...