Donnerstag, 14. August 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 3)

Tagebucheintrag Nr. 3
30. April 2012


Alles verloren



Heute Nachmittag habe ich meine Arbeit verloren. Ich wurde fristlos gekündigt. Noch immer stehe ich neben mir und begreife nicht, was passiert war. 
Ständig rief Sven an, nicht nur auf meinem Handy, sondern auch bei meiner Arbeit. Fehler habe ich gemacht. Schwerwiegende Fehler und jetzt stehe ich buchstäblich mit Nichts auf der Straße. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Beides scheint mir passend. Da hat mein Exfreund es wirklich geschafft, dass ich mich nach einer neuen Anstellung umsehen muss. Nur ihm kommt das nicht zugute. Er hat davon nichts mehr. 
Langsam schlendere ich die Mönckebergstraße hinunter. Vorbei an Kaufhof und Saturn. Mir gegenüber liegt der Hamburger Hauptbahnhof, doch ich biege rechts ab und laufe zur Steinstraße. Letztlich weiß ich nicht, wohin ich gehen soll. Ich bleibe nur einfach in Bewegung. Die U-Bahn will ich nicht nehmen, dabei spielt es eigentlich keine Rolle, was ich tue. An keinem Ort bin ich Willkommen. 
Plötzlich kommen mir die Tränen und ich versuche, nicht zu weinen. Was soll das bringen? Erleichterung? Bestimmt nicht!
Ich laufe kreuz und quer und befinde ich mich auf einmal in Höhe der Feuerwehrwache Berliner Tor. Frustriert schüttele ich meinen Kopf und drehe mich um meine eigene Achse. Wie ich hier hergekommen bin, ist mir ein Rätsel. 
Über mir geht der Mond auf und lächelt mich an. Mit seinem sanften, weißen Licht strahlt er auf mich nieder und bringt mir dennoch keinen Trost. 
Verloren fühle ich mich. So unendlich einsam, als wäre ich ganz alleine auf der Welt. Nachdenklich sehe ich mich um. Eine Frau fällt mir besonders auf. Sie trägt eine abgetragene Jeans, braune Cowboystiefel und einen knielangen Mantel. Ihr Mascara ist verwischt und schwarze Streifen laufen über ihre Wangen. Ihre braunen Haare sind im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Langsam schüttelt sie ihren Kopf, kramt dann in ihrer Handtasche herum und wird immer hektischer. Sie geht in die Hocke und kippt den Inhalt vor sich auf das Pflaster. Was immer sie sucht, es muss sehr wichtig für sie sein. 
Ich gehe weiter, auch wenn ich neugierig bin, ob sie findet, was sie so verzweifelt sucht.
Nun ja, ich suche auch nach etwas. Etwas was ich verloren habe. Mich selbst.  
Wie kann man sich nur selbst verlieren?
Das ist ganz einfach. Du gehst in einer Beziehung richtig auf. Du, der eine Knospe gewesen bist, wirst zu einer Blume, dann kommt der erste Schlag. Die Blüte welkt. Jemand stirb, der dir sehr viel bedeutete und dann geht später die Partnerschaft kaputt. Jetzt vertrocknet die Blüte. Das, warum ist, egal. Wichtig ist nur, dass sie kaputt geht. Und nun verlierst du noch deine Arbeit, deine Eltern reden nicht mir dir und Freunde hast du auch keine. Die Blume stirbt. 
Wer bist du? Kannst du mir das sagen? Wenn ja, kannst du mir dann auch sagen, wer ich bin? 
An einer Kreuzung bleibe ich stehen und sehe mich um. Jetzt weiß ich nicht, wo ich mich befinde. Nachdenklich drehe ich mich im Kreis und beginne zu verstehen, dass ich das schon die ganze Zeit tue, nur mit meinen Gedanken. 
Früher war alles so einfach. Melissa und ich, wir verstanden uns oft ohne Worte. Wir brauchten uns nur ansehen, doch dann ging etwas schief. Meine kleine Schwester veränderte sich und verschloss sich selbst vor mir. Unsere enge Bindung gab es plötzlich nicht mehr, so als hätte es sie auch nie gegeben. Für mich wurde sie immer unerreichbarer, und als dann der Anruf kam, wo sie mir auf das Band gesprochen hatte, denn ich war zu der Zeit noch auf der Arbeit, wusste ich, dass alles zu spät sein würde. Trotzdem rannte ich los. Flog förmlich zu meinem Auto, und obwohl ich fast mit Hundertsachen durch die Stadt bretterte, reichte es nicht aus. Ich war zu langsam. Damals verlor ich schon ein Stück meiner Seele und ich weiß, ich sagte, mir gäbe keiner die Schuld, doch das war gelogen. Meine Mutter gibt mir die Schuld, meine ganze Familie redet seit dem nicht mehr mit mir. Ich bin eine Verstoßene, weil ich meine kleine Melissa nicht gerettet habe. 
Ich schloss mit Bangen ihre Wohnungstür auf und rief ihren Namen, immer und immer wieder. So still erschien es mir, dass ich glaubte, die Dielen im Wohnzimmer ächzen zu hören. Dem war nicht so. Nichts rührte sich, mein Herzschlag donnerte in die Grabesstille hinein und mein Innerstes zog sich schmerzlich zusammen. Vorsichtig ging ich durch den Flur und spähte ins Wohnzimmer. Hart schluckte ich, als ich erst in die Küche und dann ins Schlafzimmer sah. Auch hier konnte ich Melissa nicht finden. Jetzt blieb nur noch das Bad. Schweiß lief mein Gesicht hinab und mir in die Augen. Mit zitternden Händen öffnete ich die letzte Tür und erstarrte. 
»Melissa«, wisperte ich und dann begann ich zuschreien. Ich fiel auf die Knie, kroch zu ihr, rüttelte an ihrer Schulter, flehte und betete, obwohl ich da schon wusste, wie sinnlos das alles war. Ich legte meinen Kopf auf ihre Brust und lauschte nach ihrem Herzen, welches schwieg. Ob ich weinte? Keine Ahnung, das habe ich vergessen. Ich denke aber schon, dass ich geweint habe. Gegen jede Vernunft versuchte ich sie wiederzubeleben, was genauso vergeblich war, wie die Raserei vorher durch die Stadt. Ihr Anruf lag Stunden zurück und dennoch hoffte ich, sie würde auf mich warten. Stattdessen lag sie im Bad in ihrem eigenem Blut und ich war es, die am Ende in einer Klinik behandelt werden musste. 
Es gab keinen Brief, keinen Abschied, kein Warum und noch immer versuche ich den Grund, für all das zu finden. Vielleicht gibt es gar keinen. Womöglich suche ich nach einem Geist, doch ich möchte verstehen, ich muss verstehen, ansonsten finde ich keine Ruhe. 

Irgendwann setzte ich mich auf eine Bank, die an einem Alsterfleet steht, und versuche die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen, was mir nicht gelingen will. Das Wasser erinnert mich an Blut. An ihr Blut, welches damals an meiner Kleidung haftete und an meinen Händen klebte. Damals, vor einem Jahr auf den Tag genau. 

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Was siehst du?

  Nun stehe ich hier. Im Raum der vielen Spiegel und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Sieh dich an, sagten sie mir. Geh und sieh dich...