Sonntag, 31. August 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 8)

Tagebucheintrag Nr. 8
15. Mai 2012


Das Letzte, was ich will




Alles begann mit Regen und es endet im Regen. 
Tief hole ich Luft und schaue zum Himmel empor. Klatschend landen die Tropfen in meinem Gesicht, die ich energisch davon wische. Erwähnte ich, dass ich dieses Zeug nicht mag? Da sich mein Regenschirm noch immer in meiner ehemaligen Wohnung befindet, besitze ich keinen. Eine Änderung gibt es, heute macht es mir nicht ganz so viel aus, wie damals. 
Ich ziehe meinen kleinen Trolli die Straße entlang und bleibe nicht stehen. Wohin ich gehen soll, weiß ich nicht. Mir ist nichts geblieben außer meinem Leben, mit dem ich nichts anfangen kann.  
Jetzt bin ich einsamer als jemals zuvor. Um mich herum herrscht reges Treiben. Die Leute flüchten durch das Nass und die Gespräche sind gedämpft. Nicht, dass ich lauschen möchte, aber es würde mich etwas ablenken. Mir bleiben nur meine Gedanken, die Hoffnungslosigkeit und die Erkenntnis, nichts in diesem Leben hinzubekommen. Melissa habe ich sterben lassen, meinen Eltern erlaubte ich, mich zu hassen und Sven -. Ihm gab ich das Recht, mich zu verletzten. Ich bin eine selten dämliche Kuh, die versucht in einem Trümmerhaufen zu überleben und es zu nichts bringt. Nicht einmal in einem fremden Land komme ich aus meiner Haut heraus. Niemand braucht mich. Keiner will mich und langsam keimt der böse Gedanke auf, dass ich es nicht wert bin, dass ich es nicht verdiene. 
In einem Hauseingang kauere ich mich auf die Treppe und greife in meine Tasche. 
So einfach, ich muss es nur machen wie Melissa. 
Meine Hände zittern, als ich meinen linken Ärmel nach oben schiebe und meinen Arm frei von jeglicher Kleidung lege. Wasser tropft aus meinen Haaren auf meine Hose und auch das stört mich nicht länger. 
»Mir tut das alles wahnsinnig leid«, flüstere ich und schaue auf das Metall in meiner rechten Hand. »Es tut mir leid Melissa, ich wusste nicht -« Tränen laufen über mein Gesicht und mischen sich mit dem Regen, genau wie damals. 
Wenn ich gehe, ist die Welt von mir befreit. Sie braucht mich nicht!
»Für uns beide ist es besser«, wispere ich heiser und schniefe. »Du konntest mir nichts geben und ich gab dir nichts. Wir brauchen uns nicht. Es ist besser, wenn ich gehe!« 
Im ersten Moment glaube ich, die Welt würde aufschreien, mir zu rufen, dass ich irre, doch sie schweigt. Nein, sie konnte mir nichts geben und gab mir auch nie etwas. 
Entschlossen hebe ich meine Hand und verharre einen Augenblick, in dem ich die Klinge anstarre. 
So einfach, ich muss es nur machen wie Melissa. 
»Gleich kann uns nichts mehr trennen, geliebte Schwester.« Meine Hand saust herab und ich schließe meine Augen. »Gleich sind wir wieder zusammen und -«
Erschrocken reiße ich die Lider auf und schaue in braune, warme Augen. Vor mir kniet ein Mann, der mir bekannt vorkommt. Die kleine Nase und die schmalen Brauen, sogar den vollen Mund kenne ich. Dr. Hopefield hält mein Handgelenk fest und sieht mich mit so viel Wärme an, dass das Messer meinen Fingern entgleitet und mit einem dumpfen Klang auf dem Treppenabsatz landet. Urplötzlich strömen noch mehr dieser verhassten Tränen über mein Gesicht, ich höre mich laut schluchzen. Dr. Hopefield setz sich neben mich und nimmt meine Hände in die Seine. Ich wusste nicht, wie gut sich das anfühlen kann. 
»Mara, richtig?« 
Leicht nicke ich und versuche vergeblich mit dem Weinen aufzuhören. 
»Warum wolltest du das machen?« Hopefield deute mit dem Kopf auf das Messer und erst will ich mit den Schultern zucken und lass es dann. 
»Ich habe meine Schwester sterben lassen«, flüstere ich. »Ich bin schuld!«, schreie ich. »Ich habe sie sterben lassen!« Gequält schluchze ich auf und sinke in mich zusammen. »Ich habe sie nicht gerettet, meine Eltern reden nicht mit mir, mein Freund hat mich vor meinen Augen betrogen und niemand versteht meinen Schmerz«, ich sehe ihn an und alles, was ich erblicke, ist Betroffenheit. Ich schlucke und weine weiter. »Niemand versteht, dass mein Herz Tag für Tag weh tut, dass ein Teil meiner Seele fehlt, seitdem Melissa nicht mehr da ist.« Ohne das ich nachdenke, lege ich meinen Kopf auf seine Schulter. Er lässt meine Hände los und legt seinen Arm um mich. Irgendwie kommt das hier mir komisch vor. Wir sitzen auf einer Treppe und lassen und nass regnen. Er gibt mir das, wonach ich mich, vor nicht all zu langer Zeit gesehnt habe. Wirklichen und ehrlich gemeinten Trost. Nein, Anteilnahme.
»Doch ich«, sagt er mit fester Stimme. »Ich verstehe dich.« 
Verwirrt drehe ich meinen Kopf und sehe ihn an. Seine Augen blicken mich ernst an und ich spüre, wie ehrlich er es meint. 
»Melissa war deine Schwester. Sie war dein Zwilling.« 
Kaum merklich nicke ich wieder nur. »Sie fehlt mir. Sie fehlt mir so wahnsinnig, dass ich oft denke, dass ich ohne sie nicht leben kann.« 
Seine Umarmung wird kräftiger. Dr. Hopefield ist so nett zu mir, dabei ist es auch sein Job. Für ihn bin ich eine Patientin, die ganz dringend therapeutische Hilfe benötigt. 
»Du kannst lernen, damit zu leben«, flüstert er mir in mein Ohr. 
»Nein!«, erwidere ich härter als beabsichtigt. »Ich habe sie sterben lassen. Ich werde nie vergessen, wie ich sie gefunden habe -« Ich breche ab und schüttel den Kopf. Die Bilder will ich nicht mehr sehen, sie sollen verschwinden. Ich schreie auf, drücke meine Hände gegen die Stirn und dennoch liegt Melissa in ihrem Blut im Bad. 
»Was ist passiert?«, fragt er mich sanft und ich beginne zu sprechen. Nichts lasse ich aus. 
»Es ist nicht deine Schuld.« 
Etwas in mir begehrt auf, aber ich schweige.
»Es ist wirklich nicht deine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können«, sagt er und ich möchte ihm glauben.  
»Komm! Gehen wir zu meinem Wagen. Hier holen wir uns noch eine schreckliche Erkältung.« Steif erhebt er sich und hält mir seine Hand hin. »Ach ja, ich bin Andrew.« Seine Augen lachen mich an und ich greife ohne Zögern nach seiner Hand, lasse mich hochziehen und zu seinem Auto führen. Mein Koffer landet im Kofferraum und ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz.

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Was siehst du?

  Nun stehe ich hier. Im Raum der vielen Spiegel und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Sieh dich an, sagten sie mir. Geh und sieh dich...