Dienstag, 2. September 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 9)

Tagebucheintrag Nr. 9
27. August 2012


Ein neues Leben




Warme Luft dringt durch das geöffnete Fenster herein. Zwei Koffer stehen neben der Tür und warten darauf, dass sie hinausgetragen werden. Wehmütig schaue ich mich um. In den letzten Wochen lebte ich in diesem Raum, redete, weinte, trauerte und schrie. Andrew leitete meine Therapie, worüber ich mich sehr glücklich schätze. Wenn er nicht gewesen wäre, wenn er mich nicht gesucht hätte, läge ich jetzt tief unter der Erde. 
Melissa ist ein Teil von mir. Sie ist meine andere Hälfte und sie wird es immer sein. Der Fluch der Eineigienzwillinge. Keiner von uns ist ohne den anderen ganz. Ich verdanke meinem neuen Freund viel mehr als nur mein Leben. Durch ihn verstehe ich heute, warum ich es schwerer als andere habe. Meinen Verlust versteht nicht jeder und wer es nicht versucht, kann es auch nicht. Meine Eltern verloren eine Tochter, ich hingegen verlor einen Teil meiner Seele. Was für mich schlimmer wiegt, als ihr Verlust. 
Nachdenklich drehe ich mich um meine Achse und sehe mich in diesem Zimmer um. Die Wand ist weiß gestrichen und ein Ölgemälde hängt über dem Bett. Es zeigt eine Waldlichtung, auf der drei Rehe stehen. Immer wenn ich traurig war, sah ich mir das Bild an, welches auf mich beruhigend wirkte. Ja, ich werde all das hier vermissen. Für einen Augenblick verspürte ich das Gefühl von Heimeligkeit. Er gab sie mir. 
Andrew ist zwar zehn Jahre älter als ich, jedoch merke ich, wie ich mich immer mehr nach seiner Nähe sehne. Dies mag verkehrt sein, nicht richtig, jedoch wehre ich mich nicht dagegen. Auch wenn er mein Arzt ist, darf ich mich doch in ihn verlieben. Was soll daran falsch sein? Ich bin nicht völlig bescheuert. Ich bin einfach nur nicht mehr ganz, womit ich lernen muss umzugehen. 
»Bist du fertig?«, fragt er hinter mir. Lächelnd drehe ich mich zu ihm um und nicke, dabei entspricht das nicht ganz der Wahrheit. Meine Koffer sind gepackt, aber ich bin nicht bereit. Eiskalt fühle ich mich, wenn ich daran denke, dass ich in vier Stunden zurück in Hamburg bin. Nicht allein, denn Andrew begleitet mich. Melissas Tod ist ein Rätsel, welches ich gelöst wissen will. Warum machte sie das? Wieso sagte sie nichts. Es sind zu viele offene Fragen, die mich quälen. Ich muss es einfach wissen, damit ich verstehen kann. Und dann gibt es da ja auch noch Sven, der mich alle drei Tage anruft und darum bettelt, dass ich Heim komme. Es ist an der Zeit, dass ich meine Habseligkeiten aus seiner Wohnung hole. 
»Geht es dir gut?« Andrew nimmt meine Hand, hält sie fest und sieht mir tief in die Augen. 
»Ja«, wispere ich und erwidere seinen Blick. »Ich habe Angst«, gebe ich zu und er nickt. 
Ein Zurück gibt es nicht. Ab heute heißt es, nach vorne starten. Für einen Moment schließe ich meine Lider, lausche auf mein Herz und drücke seine Hand. 
»Gehen wir«, sage ich und lasse meine Augen ein letztes Mal durch das Zimmer wandern. 
»Es muss nicht für immer sein«, flüstert er mir ins Ohr. »Wenn wir wissen, warum Melissa sich das Leben nahm, nehme ich dich wieder mit.« 
Genau das ist es, was ich mir wünsche. In nur drei Monaten fühlte ich mich hier mehr zuhause, als sonst irgendwo. Eine traurige Bilanz, aber die Wahrheit. 
Zögernd lässt er meine Hand los und nimmt die Koffer. Betrübt folge ich ihm auf den Flur, die Treppen hinunter und zum Eingang der Hopefield Clinic. Maria winkt mir zum Abschied zu. Die junge Schwester brachte mir oft Kaffee und Kekse. Sie ist sehr liebenswürdig und ich vermisse sie jetzt schon. Ein Taxi wartet auf uns und ich steige auf der linken Seite ein. Andrew setzt sich neben mich und dann geht es los zum Flughafen. 

Dieses Tagebuch schrieb ich in der Gegenwart, auch wenn das Geschehene eine Weile zurückliegt. Andrew sagte, es würde mir helfen, alles so aufzuschreiben, als würde ich es in diesem Augenblick erleben. Das tat ich also und es endet halt eben damit, dass wir in den Flieger steigen, der uns nach Hamburg bringen wird. Was immer die Zukunft bereithält, mit ihm an meiner Seite kann mir gar nichts passieren. 

ENDE

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  Nun stehe ich hier. Im Raum der vielen Spiegel und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Sieh dich an, sagten sie mir. Geh und sieh dich...